Bruno Havertz 1920 - 1944
Werkschau zu seinem 100. Geburtstag
herausgegeben von Rolf Bachem
Oktober 2020, 427 Seiten, 250 Abbildungen, Pb.
29,5 x 20,5 cm 2100g
ISBN : 978-3-9808973-9-6
Ladenpreis 70,00 €.
Klappentext
Bruno Havertz (1920-1944), dem diese „Werkschau“ gewidmet ist, wurde als Jugendlicher und als Student von denen, die ihn näher kannten, das heißt Verwandten, Freunden, Kunstlehrer, seinem Kunstprofessor und seinen Mitstudierenden an der Akademie, als genial begabter Maler und als eindrucksvolle Persönlichkeit wahrgenommen. Aber sein Künstlertum konnte er nur bis zu seinem 20. Geburtstag ausleben. Dann wurde er 1940 im 2. Weltkrieg zum einfachen Infanteristen gemacht, mit all den unerfreulichen Gemeinschaftszwängen und Demütigungen und körperlichen und seelischen Strapazen, die sich daraus in den 3 ¼ nachfolgenden Kriegsjahren bis zu seinem Tod an der Ostfront ergaben und dem Kunstschaffen weitgehend im Wege standen. Zweimal wurde er an der Front verwundet. Seinen Seelentrost suchte er bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, im Orgelspielen von Werken J. S. Bachs. Angesichts dieser Umstände ist es erstaunlich, was doch von ihm an vielen eindrucksvollen Bildwerken verschiedenster Gattungen erhalten geblieben ist und noch nie eine öffentliche Würdigung erfahren hat. Eine solche Würdigung soll ihm nun zu seinem 100. Geburtstag zuteil werden. Herausgegeben ist die „Werkschau“ von seinem 8 Jahre später geborenen Vetter, der diese Arbeit längst früher hatte in Angriff nehmen wollen, sie aber jetzt in seinem einundneunzigsten Lebensjahr mit wachsender Anteilnahme und Begeisterung zuwege gebracht hat. Als Zeitzeuge konnte er Zusammenhänge kommentieren und kommt auch selbst in der Porträtserie als porträtierter Junge und in den Comics und der abschließenden Fotobiographie als Familienmitglied vor.
Inhaltverzeichnis
Rückmeldungen
"Das Werkschau-Buch hat mir ein wunderbares Erlebnis des Lesens und des Betrachtens beschert! ... Beindruckend finde ich die vielen Porträts, von denen einige zu wahren Seelenlandschaften geraten sind. ... Die schönen Blätter über die Ostfriesland-Reise habe ich besonders gern betrachtet, die in den Text eingestreuten Bilder lassen die Weite von Himmel, Landschaft und Meer erahnen und treffen genau die Stimmung, wie wir sie hier erleben. … (Die) einführende Biographie hat mich so ergriffen, dass ich sie 'in einem Zug' gelesen habe. ... Das Besondere an dem Schicksal des Bruno Havertz sehe ich darin, dass er die innerliche Kraft hatte, sich immer wieder in seiner eigenen Welt des Denkens, des Malens und, wo immer möglich, der Musik zu verwirklichen. Allein, wie er offenbar völlig unbeeindruckt von der Kriegspropaganda im besetzten Frankreich über Gespräche mit Priestern Zugang zu Orgeln findet und dort, im „Feindesland“, die völkerverbindenden Werke von Johann Sebastian Bach intoniert! Viele der höchstpersönlichen Einblicke betreffen so elementare Fragen, dass dieses Erinnerungsbuch auch mich als Leser von außerhalb des Familienkreises … tief berührt.“
(Dr. R. R. , 24. 11. 2020)
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"Das ist ja ein wunderbares Opus Magnum! Sie haben uns damit sehr beeindruckt. Mit großer Freude haben wir uns damit beschäftigt und bewundern die hohe Professionalität in der Aufmachung und in den Abbildungen. Leben und Werk sind so schön verbunden und spannend, dass man gerne darin liest. Ihr Vetter ist sehr deutlich erkennbar auf der Höhe der Zeit in Anlehnung an die prominenten Künstler. … "
(Prof. Dr. Dr.h.c. W. P., 20.2.21)
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"We are truly thrilled and amazed by your book’s elaborate size, its sheer scope! The quantity and high quality of the printing, and most specially, the large color plates, make this book everything we imagined and more. You yourself must wonder, at times, how Bruno might enjoy this beautiful tribute to his remarkable life. ... The depth and detail of just your research alone, make this book an extraordinary achievement. We will share it with the children and treasure it always."
(U.&L. B., USA, 7.2.21)
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"Die Landschaften, Porträts, Reiserlebnisse, [...] die Virtuosität und die Vielfalt sind verblüffend. Und wie schön ist das Buch gemacht, ... ein wunderbares Objekt, ... das mich tief berührt."
( PD Dr. B. D. 12.2.21)
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"Heute Morgen habe ich mich sogleich wieder für mehrere Stunden festgelesen und festgeguckt - ein einzigartig großes Erlebnis!"
(Prof. Dr. D. B., 9.12.20)
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Ich habe mit großer Freude und sehr bewegt heute in Ihrem "Katalog zu einer virtuellen Kunstausstellung" von Bruno Havertz‘ Werken gelesen. … Ihre Texte sind in den biographischen Teilen wunderbar genau, lebendig, persönlich und doch mit historischer Tiefenschärfe. ...
Hier ist Ihnen wirklich ein "Kunstkatalog" geglückt. Was gäbe man in manchem Kunstkatalog darum, wenn die Werke erst einmal so präzise beschrieben wären, wie Sie es hier tun, mit aller gebotenen Konzentration, hilfreichen Hinweisen, auch mit notwendiger Zusatzinformation. Ich war für viele Hinweise dankbar, … auch für Bruno Havertz‘ feine Ironie, die er schon als Jugendlicher besessen zu haben scheint.
Es bewährt sich auch, dass Sie die Tagebucheintragungen wörtlich transkribiert haben, in seiner eigenen Schilderung gewinnt der Leser einen unmittelbareren Einruck von diesem sensiblen jungen Mann. Wie sympathisch seine Wahrnehmungen, sein Nachdruck, seine Schilderung! Und so sieht man sich dann die kunstvolle Bebilderung emotional ganz anders bewegt an. (E. S., 3.6.21). -
(15.6.:) Ihre Editionsarbeit ist nur zu preisen, unglaublich - immer auf den Punkt hilfreich, großartig, wie Sie im Fahrtentagebuch tatsächlich genau nebeneinander Transkription und Original gegenüber gestellt haben. Bewegt hat mich die Analyse des erfahrenen Rhetorikers, der alle methodische Souveränität den Briefen dieses Jungen zukommen lässt, auch in der historischen Einordnung.
... Gerade habe ich die letzte Seite Ihres Brunobuchs gelesen, mit großer Andacht und Aufmerksamkeit auch noch einmal die Familienfotos… betrachtet - und bin tief beeindruckt.
(E. S., 15.6.21)
Auszüge
1. Ostfrieslandreise des 17-jährigen Studenten im August 1938
Die abgebildete Seite aus dem Tagebuch zeigt links in der Ferne im Abendlicht den heute noch existierendenBauernhof Akkens nahe dem Fischerhafen Greetsiel, und rechts die dekorative Petroleumlampe in der Bauernstube dieses Hofes, auf dem Bruno und sein Mitstudent ihre Ferienunterkunft gefunden hatten. Der Hund Tell gehörte zum Hof. Die ins Bild hineingeschriebene Sütterlinhandschrift ist hier transkribiert.
Draußen wehte noch immer stürmischer Nordwind. Wir kamen in den Kuhstall und stellten die Räder hin. Da kam auch schon Tell. Er begrüßte mich nach Hundesitte, indem er mich am Ärmel riß. Er forderte mich zum Kampf auf. Aber ich war zu müde. Im Kuhstall war es bald stockfinster. Wir wurden gerufen und begaben uns alle Drei zur Küche. „Na Bruno, fleißig gewesen?“ fragt der Bauer, der in der Ecke sitzt „Na und ob!“ sag ich da. Und neben ihm sitzt Jan „Jan spiel was!“ Jan nickt. Jan hat guten Benimm. Er setzt sich in seine Südwestecke und fängt an zu spielen. Wir hören zu. Haben wir das nicht schon oft gehört, wenn wir auf dem Deich saßen und die Fischer kehrten heim, daß einer‘s zwischen den Zähnen pfiff. Oder wenn wir durch Greetsiel fuhren, daß die Frauen es in den Häusern sangen, und ich glaube ich hab es in Lathen gehört, das war doch … War das nicht …? „Das „Ostfriesenlied“, sagt der Bauer, „In Ostfriesland is‘t am besten“. - Da ging die Frau und zündete den Petroleumleuchter an. Dann bekamen wir Ostfriesischen Tee. Der schmeckte so was wie Milch mit Honig. Tell lag drüben unterm Tisch. Er schlief. Wir sprachen über so allerlei und mußten auch unsere Werke vorzeigen. „Schon ganz gut“, lobte der Bauer. Dann tranken wir unsern Tee aus, und ein jeder ging zu Bett. Es dauerte nicht lange, da lagen wir im Stroh und waren eingeschlafen.
2. Dalmatienreise des 18-Jährigen im August/September 1939
Der in Köln beheimatete Bruno musste, durch die NS-Verwaltung gezwungen, zuerst einen Erntehilfeeinsatz auf einem Bauernhof in Ostpreußen absolvieren und durfte danach erst seinen Mitstudenten Marianne und Fritz nach Budva, Kroatien, nachreisen. Von der Hinreise dorthin erzählt die hier abgebildete und transkribierte Tagebuchseite 5. Skizziert sind in der oberen Hälfte Menschen in verschiedensten Uniformen und Kostümen, links unten die Eisenbahn am Felsabhang und rechts unten ein Dorf in der Landschaft. -
Zum Sprachstil: Hier erzählt ein nicht angepasst sein wollender Kölner Achtzehnjähriger der NS-Zeit, der dem Nationalsozialismus abgeneigt ist, aber in einer Kultur aufgewachsen ist, die weitgehend streng vom Ausland abgeschlossen war, für den dies die erste Auslandsreise ist.
[ 8 Uhr Abfahrt mit der Schmalspurbahn. - Zwei Volksdeutsche aus dem [Banat] fragen mich nach Wimpeln und Abzeichen. - Schöne Dämmerung. - Überall Landsiedlungen und Dörfer im arabischen Stil. [ … ] - Draußen Moscheen, Minarette, Dunkelheit und ein Riesenfeuerwerk aus dem Lokomotiven-Schornstein. - Doboj – Maglaj. [ … ]- Die Türken fangen an zu fressen: Brot, Ziegenkäse und Knoblauch. - Sie schenken mir Pfirsische – Zaridovici. - Mitternacht - ]
Zunica – Lasra – ich werde wach – infolgedessen muß ich doch geschlafen haben – Sarajewo – alles austeigen. 2 ½ Stunden Aufenthalt. Da hättest du beisein müssen - sowas wie Sarajewo hab ich im Leben noch nicht gesehen. - Alle Arten von Untertanen Mohammeds – Bauern mit weißen Korsuljas und blauen Hlaces und den gutmütigsten Gesichtern (siehe rechts unten), Soldaten (daneben), Mlade Muze drüber, Gefährliche, (links oben), vornehme (mitte – tragen Papuce an den Füßen, während das dumme Volk Opanken anhat), Medrese (daneben) Gospodin (daneben – verschleiertes Bauernweib), Gospalfika (links außen – vorwiegend türkischer Einschlag, eine die alten Sitten verachtende Schönheit) – Weiß nicht, was noch mehr rumlief – Weiterfahrt - der ganze Zug voll von dem Pack. - Vor mir ein ganz toller Bauer – hätte ihn gleich im Zug gemalt – neben mir Haremweiber - rundum wilde Gesellen – die dollste Eisenbahnfahrt meines langen Lebens fängt an. Der Zug fährt ins Gebirge – durch Tunnels – über Brücken, in über tausend Meter Höhe - Ilidja Banja – immer neue Türken steigen zu – furchtbare Hitze – man kann neben dem Zug hergehen. - Ich hoffe andauernd: Heute werd ich hoffentlich vielleicht die Zwei treffen – ich sehe sie schon da stehen, [das] macht mir alles[=sehr viel] aus und [ich] freu mich, mal wieder Leute verstehen zu können, und so gute Leute. Den ganzen Tag Türken und sonst ganz allein auf weiter Flur, kann einen rasend machen – Conjic – eine ganze Türkenfamilie sitzt neben mir – richtige Türken – die grinsen komisch: „Sie, Sie, junger Mann, sind Sie Deutscher?“ - Der Türke spricht wahrhaftig mit mir – ich klage ihm mein Leid – die würden bestimmt da sein, [nickt] er. Nette Kinderchen haben die Leute – besonders der kleinste, „Muscha“ (Mustafa). - Jablanica – bergab – Mostar, die alte Türkenstadt. - Hier wird die Sache ganz verrückt. -
[In senkrechter Zeile oben rechts steht:] (Der Soldat hat Ähnlichkeit mit Marschner.)
3. Emsland. Beginn der militärischen Ausbildung
Ihr Lieben! Lingen 10. 10. 1940
[….. ] Heute Morgen ist Sonntag. Schön heute. Gleich sollen wir ins Kino, „Murnauer Geschichten“. „Luftgefahr 15“, das heißt, Gasmaske umhängen, Stahlhelm auf, Koppel um, mit Seitengewehr. Das hab ich jetzt und schreibe. Im Radio spielt man einen schönen „Bach“: Herz, was willst du noch mehr. Jetzt spielt es gerade Schubert. Die Sirene ist bisher noch nicht gegangen. Es ist 10 Uhr morgens. Gestern war Gasprobe. Wir standen draußen, Gasmaske auf. Im Gashaus ein paar Schüsse, der Gasmeister reißt das Tor auf: „Marsch, marsch! Rein!“ Im Gashaus: Ein fauler Gestank steigt in die Nase. Wir marschieren, singen, laufen, machen Freiübungen, kriechen durch ein enges Loch. Die Augen brennen, die Nase kitzelt, Das ist Tränengas. Wir müssen singen. [ …] Es klingt wie dumpfes Murmeln. Andauernd sausen jetzt im Moment [deutsche] Jäger in niedriger Höhe an der Kaserne vorbei. Einer will einen Engländer gesehen haben. Die Luftgefahr war vorbei, das Kino wurde besucht, der Film war blöde, die Stube skatet.
Montag. Heute Morgen waren wir zu etwa 30 Mann in Lingen zum Optiker Schießbrillen anpassen, während die Kompanie fleißig Fliegerdeckung und Hinlegen übten. [ … ] Nachmittags Schießausbildung. Ich nehme an, daß ihr wißt, was das ist. Mit Schießen hat das weniger zu tun, mehr mit Hinlegen, Aufstehn, Robben, Rollen, und ab und zu wird mal Gewehr gerichtet. - Ich muß gerade lachen. Alois hat sich die Gasmaske aufgesetzt und singt, läuft in der Stube herum, tänzelt. Alois kennt bestimmt 100 Lieder auswendig, von denen er ab und zu welche zum besten gibt, indem er sich auf einen Stuhl stellt und laut singt. Übrigens hab ich mich eben verfeinert. Ich hatte leider nicht bemerkt, wie mein Bart wuchs und wuchs, bis dies der Gefreite mir zu verstehen gab. Der Unteroffizier machte das schon wüster, was der Feldwebel Liebes über meinen Bart sagte, weiß ich nicht mehr, erst recht nicht, was mir darauf der Leutnant zu Gemüte führte. Jedenfalls hielt ich es danach für geraten, mich recht fein zu rasieren. Wie werden sich morgen der Gefreite, der Unteroffizier, der Spieß und der Leutnant freuen. Der Unteroffizier hat immer ein liebes Wort für mich. Einmal mach ich ihm ein zu böses Gesicht, und ein andermal gefällt ihm meine Haarfarbe nicht. Übrigens stellte der Feldwebel fest, daß der Mann (das war ich) ja ganz gut sehen könne, weil ich das beste Gewehrrichtergebnis hatte. [betr. Zieleinstellung]
Dienstag. [ … ] Ich habe Stubendienst. Gleich wird der U. v. D. mit Gefolge kommen, mit den Fingern an den Türfüllungen der Spinde, über Fensterrahmen und Lampe fahren: „Mensch, Kerl, nennen Sie so was rein? Sie sind verrückt!“
8. 2. 41. Ich bin zur Kompanie versetzt, also kein Melder mehr. Ihr seht also, daß sich Bruno nicht gut führte. Ich habe nicht nötig, diesen kleinen Rutsch zu beschönigen, denn wenn Ihr die Verhältnisse hier känntet, würdet ihr euch nicht wundern. Zur Kompanie versetzt heißt also mitlaufen, und im Dreck rumkriechen. Ich bedaure mich wegen sowas nicht im Geringsten. Nur wird es mir schwer fallen. […]
4. Belgien. Orgelsuche als Besatzungssoldat
9. 2. 41. Heute ist bekanntlich Sonntag. Das ist mal ein Vorzug, dass man wenigstens Sonntag hier feiern kann und keinen Melder vom Dienst zu machen braucht. [… ] Um Vercourt liegen Wiesen, Bäche ziehen sich durch, Pappeln, Weiden und Hecken. Eine Landschaft von Wiesenhügeln, richtig zum Sonntagsspaziergang. Und unter Bäumen steht eine alte französische Kanone.
Zeichnung: ein zerstörtes 1.Weltkriegs- Geschütz:„wie ein stehen gebliebener verrosteter Pflug auf dem Feld“
Ich bin so über die Wiesen gelaufen und merkte, daß es Frühling wurde. Man erlebt nicht immer gleich schön den Frühlingsanfang. Heute war es sehr schön. Da sah ich hinter der Hecke auf dem Weg den Pastor von Villers sur Authie kommen. „Hallo, Monseigneur Abbé!“ hab ich gerufen und hab ihn gefragt, ob er in seiner Kirche eine Orgel stehen hätte. Nein, er hatte keine. Auch gibt’s hier in der Gegend kein Klavier. Zum Orgelspiel müßte ich bis Quend oder Rue. Der Mann war sehr nett und erzählte alles Mögliche. 5 Jahre war er Soldat und hat den [1.] Weltkrieg als Spieß mitgemacht. „Feldwöbbl“, sagte er.
Wenn man so über die Wiesen geht, wird einem heimatlich zumute. Ich bin eigentlich sehr viel anders als die andern alle, und Freunde habe ich keine. Ich habe öfters das Bedürfnis Frieden zu suchen. Da draußen auf den Wiesen, wo das Geschütz steht wie ein stehen gebliebener verrosteter Pflug auf dem Feld, da ist, besonders abends, der schönste Frieden. Wenn ich dann zwischen Bäumen Dächer in der Sonne sehe, dann denk ich an Niederaußem. Bloß müßte da noch die Kirche stehen, dann müßte man die Treppe rauf gehen können, den Schalter runterdrücken und spielen können.
Es ist sicher vieles nicht gut mit mir, aber ich kenne auch nicht diese blödsinnige Art von „Idealismus“ wie andere, mir ist fast alles gleichgültig, und ich betrachte alles, als ob ich nicht gesehen würde und unsichtbar wäre. Ich sehe mir das ab, was andere machen, und einiges wenige, was sie machen, wende ich an, ohne ganz dabei zu sein, wie die anderen, wenn sie den ganzen Tag reden, um unsichtbar zu bleiben. Wahrscheinlich nennt man so etwas einen Träumer. Und das sind sicherlich nicht die Besten.
Heute Morgen war eine Übung an der Somme-Mündung. Alles hatten wir dabei, leichte Feldartillerie, leichte und schwere Granatwerfer und Flammenwerfer. Es wurden Bunker gestürmt. Schwere Artillerieeinschläge wurden durch eingelegte Sprengladungen markiert. Über hundert Meter hoch mögen wohl die Erdfontänen gewesen sein. Es war ein ganz interessantes Schauspiel. 100 Meter hinter uns schoß eine Schwere-Granatwerfer-Gruppe. Über unseren Köpfen bullerten die Geschosse weg. Nachher wurden geballte Ladungen zur Explosion gebracht und die Flammenwerfer eingesetzt.
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(Wieder in Namur: nach der 1. Verwundung in Russland, 10. 2. 1941, an die Mutter, )
Ich bin hier in Namur in der Marie-Henrietten-Kaserne. So wie ich mich entsinne, bist du doch längere Zeit hier in Namur gewesen [= Brunos Mutter war 1913 dort im Internat], vielleicht bei den Schwestern von Notre Dame oder wie sich das nennt. Bisher hab ich Namur nur bei Nacht gesehen, besser gesagt, bei Nacht und Nebel. Denn hier war meistens noch nebliges Wetter. Gesucht hab ich im Halbdunkeln nach Kirchtüren. Ich fand zwischen den dichtgedrängten Häusern einige barocke Kirchenportale. Bei einem solchen Portal habe ich dann nach dem Pastor gefragt. Man schickte mich an eine Art Klosterpforte. Die Alte, die aufmachte, behauptete hartnäckig, sie hätten zwar eine Kirche mit einer Orgel drin, aber keinen Pastor, und im übrigen könne ich abends nicht Orgel spielen. Die zweite Kirche hatte zwar einen Pastor, aber der bedauerte, daß sich das Orgelspielen in der Nacht schlecht machen ließe. Bei dem dritten schließlich saß ich einen ganzen Abend. Er schenkte mir ein und war sehr freundlich. Er hatte zwar noch nie Gelegenheit gehabt, sich in Deutsch zu unterhalten, sprach und verstand aber trotzdem so ziemlich alles. Er hatte sich die deutsche Sprache aus Zeitschriften und Briefen beigebracht. Auch er konnte mir den Gefallen nicht tun, da er keine Schlüssel zur Kirche besaß und es ihm, wie er sagte, von seinen Belgiern sehr übel genommen würde. Man ist nämlich hier überall deutschfeindlich. Zum vierten versuchte ich‘s in einem Jesuitenkloster. Der Rektor ließ mir sagen, daß die Kirche abends geöffnet wäre, und daß es deshalb nicht ginge. Zum fünften ging ich zum Kloster der Redemtoristen. Hier war der Rektor verreist. Zum sechsten war ich bei den Franziskanern in Salzinnes [=Vorort von Namur]. Man sagte mir, daß [abends] 7 – 1 Uhr Gebet in der Kirche sei. Siebtens war ich beim Pfarrer von Salzinnes. Hier endlich fiel mein Anliegen auf fruchtbaren Boden. Also werde ich heute Abend zur Kirche Sainte Jeunette hin gehen. Wie der Pfarrer sagte, ist es eine deutsche Firma, von der die Orgel gebaut ist. Es ist eine Walker-Orgel mit 35 Registern.
Heute Abend ist ein Nachtmarsch. Bisher hab ich nie etwas mitgemacht, weil ich für die Kompanieunterkünfte allerlei Schilder zu malen hatte. Natürlich ziehe ich die Angelegenheit sehr in die Länge, so daß ich jetzt noch dabei bin. Übrigens war ich schon zweimal zum Orgelspielen. Es ist das eine komische Orgel. Obgleich sie den Wünschen nicht ganz entspricht (sie ist etwas defekt), so bin ich doch damit froh, eine Gelegenheit zu haben. Ich geh jetzt immer zum Organisten hin, der mir die Schlüssel gibt. Sein Neffe, ein 21-jähriger Musiker, hat mich das letzte mal auf der Orgel besucht und mir allerlei gezeigt. Wir haben uns längere Zeit unterhalten. Er schloß mir dann einen Schrank auf, darin lagen sämtliche Werke von Bach – und die alten Meister, deren ich auch eine Reihe besitze. Du kannst dir denken, daß das für mich ideale Zustände sind.
5. Nach erster Verwundung und wieder Belgienaufenthalt, jetzt erneut in Russland
Bolschewo [östlich Luga] 25./26. 12. [Weihnachten 1941]
Liebe Mutter,
Ich sitze hier in einer russischen Bauernstube. Meine Wache ist eben vorbei. Es ist 8 Uhr morgens. Draußen ist eine Kälte um -30°. Der Bauer hat 2 Tannenbäume vor der Türe stehen, die er ja wahrscheinlich hier in der Stube aufstellen will. Es ist ja Weihnachten seit gestern Abend. Wenn man die Dorfstraße runter geht, und die Sonne scheint gelb zwischen den Wolken durch, dann leuchten die Dächer so bunt, daß man glaubt, so etwas noch nie gesehen zu haben. Der Schnee ist über die 30 cm hoch und knirscht ordentlich unter den Stiefeln. Er ist glashart gefroren. Die Häuser sind natürlich alle aus Holz, wie fast alle Häuser [hierzulande]. Auf der Fahrt kamen wir an größeren Städten vorbei. Eine Stadt Namens Luga macht den Eindruck eines Reihendorfes mit lauter kleinen Holzhäusern. Die Straßen sind sehr breit und viel mit Birken eingefaßt. Mitten im Dorf Bolschewo steht auf einer Straßenseite ein kleines Holzkapellchen mit zwei halbwegs geborstenen Zwiebeltürmen. Mit der Hand kann man das Dach durchgreifen. Das ist die einzige Kirche, wie es scheint.
Zeichnung eines überdachten Brunnens
Das ist ein Brunnen. Eine Kette läuft über eine Trommel, die durch ein großes Schwungrad mit Speichen gedreht wird. Etwa 50 bis 60 km von hier liegt Petersburg. 4 km von diesem Dorf weg liegt der Bahnhof, von wo wir am 23. hier hin ins Quartier marschiert sind. Es war vorgesehen, am nächsten Morgen abzumarschieren. Mittlerweile haben wir schon den 2. Weihnachtstag, und morgen in der Frühe soll der Marsch losgehen. Die einzelnen Gruppen haben sich Schlitten besorgt, mit einem Pferd, um das Gepäck nicht tragen zu müssen. Wahrscheinlich werden wir 120 km zu laufen haben, bis wir an Ort und Stelle sind.
Ich hatte dieser Tage starke Zahnschmerzen, die ich zuerst verspürte, als wir in Namur abfuhren. Während der Fahrt wurden die Schmerzen immer stärker. Beinahe die ganze linke Kopfhälfte schmerzte. Augenblicklich ist die Sache schon ziemlich zurückgegangen. Ich war eben kurz draußen. Es sind 37° Kälte. Es ist sonderbar, aber man merkt das zuerst gar nicht.
Die Leute, bei denen wir hier liegen, sind sehr nett. Es sind keine Russen, sondern Finnen, die hier 1/3 der Bevölkerung ausmachen. Sie haben 3 Kinder, 2 Söhne und deren Schwester, Victor, Pawel und Lila. Pawel ist der älteste, er ist 16 Jahre. Er spricht Finnisch und Russisch und etwas Deutsch und kann gut Schreiben und Lesen. Die Kinder und überhaupt die Leute sehen hier sehr gut aus. Die Inneneinrichtung der Häuser müßtest Du sehen. Man kann nicht sagen, daß unsere Gastgeber schmutzig sind, ganz im Gegenteil. Interessant ist der Ofen in unserem Zimmer. Er wird am Morgen mit 10 Holzscheiten gestopft und angesteckt. In 20 Minuten ist alles abgebrannt, und dann ist es den ganzen Tag warm, sogar sehr warm. Den Christbaum müßtest du sehen, der hier vor mir in der Stube steht. Einen bunteren hast du noch nicht gesehen. Kerzen am Weihnachtsbaum kennt man nicht.
Hoffentlich hast du keine zu trüben Weihnachten gehabt. Schreiben konnte ich bisher auf dem Transport schlecht, und noch schlechter ist hier die Möglichkeit, die Post abzuschicken. Und nun will ich schließen, da wir morgen sehr früh marschieren werden. Ich wünsche Dir nun noch nachträglich ein frohes Weihnachtsfest in Niederaußem und ein gutes Neujahr. Es grüßt dich
Bruno
Dorf Bolschewo
6. Sein letzter Brief: an Weihnachten 1943,
im Eisenbahnviehwagentransport von Belgien an die Ostfront
Liebe Mutter, liebe Niederaußemer! Minden 25. 12. [1943]
Wir sind nun, wie wir bereits erwarteten, am 24. mittags abgefahren. Nun, wenn man das vorher weiß oder die Wahrscheinlichkeit besteht, dann trifft einen so was längst nicht so hart, da man in allem bereits vorbereitet ist. [ … ]
Augenblicklich sind wir in Minden in Westfalen. Voraussichtlich werden wir bis morgen früh hier liegen bleiben. Ich hab nun versucht, einmal kurz an Weihnachten zu denken, aber das war ziemlich aussichtslos bei dem Gegröhle während der ganzen Nacht. Ziemlich viel zu wünschen übrig läßt auch unsere Verfrachtung, besser genannt: [unsere] Verpackung [läßt] einiges zu wünschen übrig. Es bleibt einem eben nichts anderes übrig, als in allen Lebenslagen, auch den schiefsten und krummsten, auch wenn etwa oben die Beine und der Kopf zuunterst zu liegen kämen, zufrieden zu sein. Solche Kunst kann man, glaub ich, bloß nach jahrelanger Erfahrung bei einem Sauhaufen wie diesem hier lernen. Und nun will ich gleich wieder zum Waggon rüber gehen, einen selber entworfenen Kerzenleuchter entzünden, und bei dieser strahlenden Weihnachtsleuchte etwas lesen, um anschließend ganz bald in weihnachtlich seltener Lage vollkommen selig einzuschlafen. Zu guter Letzt will ich hoffen, [daß] das liebe kleine Christkindchen diesmal nett zu Euch war, und wünsche Euch weiter ein schönes Friedensfest. Ich werde so tun, als ob ich dabei wäre.
Es grüßt die liebe Mutter und Euch Niederaußemer alle
der Bruno
In den folgenden 4 Wochen des Winterkriegs in der Ukraine hatte er keine Gelegenheit mehr zu schreiben und fiel in den Rückzugskämpfen westlich von Kiev.
7. Einige Bilder
Portrait einer jungen Frau
Kohlzeichnung
Die alte Mühle bei Rath
Kohlezeichnung
Werbegrafik
Entwurf für Schulphysik Messapparate
Dorf Auenheim um 1937
Aquarell
Bauernhof im Dalmatien
Aquarellskizze von der Studienreise des Kunststudenten
August 1939
"Auf zum Hürdenlauf"
Comics zu den Olympischen Spielen 1936
Klappentext
Inhaltsverzeichnis
Rückmeldungen